Werbesprech

In Deutschland werden Milliarden Euro Werbegelder verbrannt

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„Confirmed“ und „Likely“ Humans

Weiter stellt Barracuda fest, dass zwei Drittel der „bösen“ Bots in den USA identifiziert werden, während Europa für 22 Prozent des weltweiten Böse-Bot-Aufkommens verantwortlich ist. Dies ist ein ernstzunehmender Hinweis für hiesige Experten, die gebetsmühlenartig behaupten, Deutschland bliebe von Bot-Traffic weitgehend verschont, ohne jedoch Beweise für ihre These vorzulegen – in krassem Widerspruch zu den Berechnungen von Dr. Fou.

Doch in Europa mangelt es keinesfalls an Erkenntnissen zu diesem für Werbekunden beunruhigenden Thema. Michael M. Maurantonio, langjähriger Mediaexperte und Partner der Agentur HOT AG, arbeitet seit vielen Jahren mit Dr. Fou zusammen und ist an der Weiterentwicklung der Tools beteiligt. Er auditiert Onlinekampagnen in der Schweiz und Österreich auf Auslieferungsqualität und Sichtbarkeit. Erste Audits in Deutschland sind in Vorbereitung.

Ein von Maurantonio dokumentierter Fall weist für eine Schweizer Kampagne 23 Millionen Ad Impressions in einem Kampagnenmonat aus. Davon wurden 1 Prozent an „confirmed humans“ (bestätigte, menschliche Nutzer) und weitere 4 Prozent an „likely humans“ (vermutlich menschliche Nutzer) ausgeliefert, 19 Prozent blieben nicht zuordenbar („unknown“) und 76 Prozent entfielen an Bots: sogenannter „non-human traffic“.

Gewiss ein Einzelfall, jedoch kein ungewöhnlicher. Der Experte schätzt, dass im Schnitt etwa 10 Prozent der Online-Anzeigen in der Schweiz, Österreich und Deutschland an „confirmed humans“ ausgeliefert werden. Somit läge bei programmatischer Online-Werbung der finanzielle Schaden für eine beliebige Kampagne bei bis zu 90 Prozent des Etats.

Es geht um ungeheuer viel Geld: In diesem Jahr erwartet die deutsche Online-Branche für den Displaywerbemarkt einen Nettoumsatz von 5,07 Milliarden Euro: eine Steigerung von 23 Prozent gegenüber dem bereits guten Vorjahr. Zwei Drittel hiervon (3,4 Milliarden Euro) werden programmatisch ausgeliefert, so dass sie Opfer von Onlinewerbebetrug werden können. Der Markt arbeitet übrigens nach Kräften daran, diesen Anteil baldmöglich auf 100 Prozent zu steigern.

Money follows fraud

Nun gilt es zu ermitteln, wie viel Geld deutsche Werbungtreibende jedes Jahr an Betrüger verlieren. Um es deutlich zu sagen: Es geht nicht um Streuverlust, wie ihn Henry Ford und der „Vater der modernen Werbung“ John Wanamaker einst mit „Ich weiß, die Hälfte meiner Werbung ist hinausgeworfenes Geld…“ meinten. Es handelt sich hierbei um systematischen Betrug.

In Deutschland werden für programmatische Displaywerbung in diesem Jahr 3,4 Milliarden Euro investiert. Dem Onlinewerbebetrug fallen zwischen 25 (Jupiter) und mehr als 70 Prozent (Fou) zum Opfer, im Schnitt also jede zweite Anzeige. Nehmen wir an, Deutschland hätte sich gegen diesen Betrug tatsächlich als einziges Land der Welt und besser als jedes andere bewaffnet und es wären hierzulande nur ein Drittel. Dann würden deutsche Werbungtreibende jedes Jahr mehr als eine Milliarde Euro an systematische Online-Betrüger überweisen.

Doch das ist ein geschönter Best Case. Rechnen wir hingegen ein Mittel aus 25 und 90 Prozent („confirmed humans“), kommen wir auf fast 60 Prozent Betrugsanteil und eine Summe von zwei Milliarden Euro. Die Wahrheit wird – wie immer im Leben – in der Mitte liegen: bei 1,5 Milliarden. Diese gewaltige Summe geht deutschen Werbern jedes Jahr verloren.

Die Werbung folgte stets der Regel „money follows eyeballs“: Wohin sich die Augen der Endverbraucher wenden, dorthin fließt auch das Werbegeld. Inzwischen sieht es danach aus, als würden sich die Werber blinden Auges Bot-Betrügern zuwenden: „money follows fraud“.

Das Unheil nimmt seinen Lauf

Das hat es noch nie gegeben: Werbekunden überlassen Betrügern – ohne von ihren Dienstleistern gewarnt zu werden – freiwillig zwischen einer und zwei Milliarden Euro ihres Marketinggeldes. Jedes Jahr.

Deutsche Medien und Publisher, denen jenes Geld entgeht, verhalten sich angesichts dieser bedenklichen Entwicklung erstaunlich zurückhaltend. Wenn bald die digitalen „Frenemies“ Google (verantwortlich für fast die Hälfte aller Anzeigen auf Fake News-Seiten, Facebook und Amazon auch hierzulande die Hälfte aller Werbegelder auf sich ziehen, verlieren sie zusätzliche Milliarden Euro Werbeumsatz – und viele zwangsläufig ihre Existenz.

Als bislang Einziger erhebt Philipp Welte, Burda-Vorstand und Vizepräsident des VDZ seine Stimme und attackiert die US-Plattformen scharf: „Google, Facebook und Amazon machen inzwischen ein Drittel des gesamten deutschen Werbemarktes aus, in den USA landen 90 Cent von jedem digitalen Werbe-Dollar bei diesen drei Unternehmen. Da der Werbekuchen kaum größer wird, geht das Wachstum der Digital-Plattformen vollständig zulasten der anderen Mediengattungen. Was wir erleben, ist in letzter Konsequenz eine Marginalisierung der journalistischen Medien auf dem Werbemarkt.“

Vielen Marketingverantwortlichen ist der Online-Betrug, der sie unverschuldet trifft, in Ansätzen bewusst. Nicht jedoch die Tragweite. Sie dürfen um jeden Tag froh sein, an dem weder CFO noch CEO an die Tür klopfen und unangenehme Fragen stellen. Oder wenn Aktionäre hellhörig werden, weil ihre Investitionen verbrannt werden und augenscheinlich niemand etwas dagegen unternimmt. Marketing muss lernen, Verantwortung auch für das Mediabudget zu übernehmen.

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Unser Marketing braucht mehr Sicherheit im Umgang mit Onlinewerbung. Eine Sicherheit, die ihnen Agenturen und Dienstleister derzeit nicht geben. Wir brauchen belastbare Zahlen zum Onlinebetrug in Deutschland. Und mehr Rückenwind aus dem Lager der Media-Experten sowie hiesiger Medien. Denn wer Onlinewerbung bei vertrauenswürdigen deutschen Online-Publishern und den klassischen Medien TV, Print, Plakat, Radio und Kino für seine Media-Kampagne nutzt, spricht zu Menschen aus Fleisch und Blut. Das war bisher ein Fakt, über den nicht diskutiert werden musste. Wenn die Onlinebranche nicht bald reagiert, ist es der einzige Ausweg aus dem Dilemma.

Mehr zum Thema: Brand Safety ist eines der essenziellen Probleme der Internetwerbung. Es bedeutet jedoch mehr als nur Schaden von der eigenen Marke abzuwehren. Es geht um Größeres: die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen.

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